Joachim Hensch liest vor

Die Musik des Vorlesens

Schon beim Erlenen der Fremdsprache Englisch in der 10. und 11. Klasse meiner Schulzeit bemerkte ich, dass Sprache mehr als Vokabeln lernen und Grammatik ist.
So wie die Knoten oder Fäden eines gewebten oder geknüpften Teppichs nichts über die Schönheit seiner Muster aussagen. Also horchte ich auf die Sprache und sprach sie laut, wie auf dem Theater vor mich hin. Grammatik und Vokabeln ergaben sich dann mehr oder weniger aus den hörbaren Mustern von selbst.

So höre ich beim Vorlesen von Texten zuallererst auf den Klang und die Poesie, der mich trägt und die eigentliche Wirkung beim Publikum erzielt.

Eines Tages, mit 71 Jahren bemerkte ich, dass sich die „Kunst des Vorlesens“ wie die Fähigkeit ein Instrument zu spielen in mir ausgebildet hatte. Sie erfordert die gleiche Wachheit und Präsenz, um jedem Wort mit den eignen Sprachorganen seinen ganz eigenen Klang zu verleihen. Zugleich verlor ich auch jegliche Angst davor, Fehler zu machen, weil ich ganz im Strom des Vorlesens aufgehe.

Und so kann ich von einer Kunst des Vorlesens sprechen, die für den Zuhörer eine ganz neue Seite des geschriebenen Wortes erlebbar macht.